Dr. Nancy Aris

Datum 27.02.2024

Porträt Dr. Nancy Aris

Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Die Netzwerkerin

Seit drei Jahren ist Dr. Nancy Aris Sachsens Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Einstimmig wählte der Sächsische Landtag die Historikerin am 24. März 2021 in dieses Amt. Die Einarbeitung konnte ob ihrer profunden Erfahrung nach zuvor 18 Jahren als stellvertretende Landesbeauftragte kurz ausfallen. Das vielfältige Themenspektrum aus Rehabilitierungs- und Opferberatung, politischer Bildung, Gedenkstätten- und Projektarbeit sowie Vernetzung und Lobbying für ein vermeintliches Nischenthema hat sie von der Pike auf gelernt. Wir haben die Landesbeauftragte bei ihrer Arbeit begleitet.

In wenigen Monaten feiern wir 35 Jahre Friedliche Revolution. Viele Menschen, die nach dem Ende der SED-Diktatur geboren wurden, kennen das Regime bestenfalls vom Hörensagen oder aus dem Geschichts­unterricht. »Wozu brauchen wir eigentlich immer noch eine Landesbeauftragte?«, entscheide ich mich für einen provokanten Gesprächs­einstieg. »Reichen 35 Jahre nicht zur Aufarbeitung von vier Jahrzehnten Diktatur?«

Rehabilitierung und Opferberatung

»Nein!«, antwortet Nancy Aris, die neben mir auf der Autorückbank sitzt. Unsere Fahrt nach Chemnitz lässt genügend Zeit für die anschließenden Erläuterungen. »Es gibt noch immer Opfer, die erst heute die Kraft haben, ihr Schicksal aufzuarbeiten. Einstige Republikflüchtlinge beispielsweise haben seit Jahrzehnten keine Verbindung mehr in den Osten. Viele wissen leider immer noch nichts von den Rehabilitierungs- und Entschädigungsmöglichkeiten. Davon erfahren sie erst beim Renteneintritt«, so die Landesbeauftragte. Der Weg zur Rehabilitierung kann langwierig sein. Solche Fälle werden in inten­siver Einzelfallberatung von Aris und ihrem Team begleitet: In einem ersten Schritt muss das DDR-Urteil von einem bundesdeutschen Gericht überprüft und aufgehoben werden. »Erst nach einer strafrechtlichen Rehabilitierung können die Betroffenen weitere Unterstützungsleistungen bekommen.« Zudem wurden 2019 die Reha-Gesetze novelliert und damit der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet. Seitdem können in bestimmten Fällen auch Kinder und Jugendliche, die in Spezialheimen und in Jugendwerk­höfen der DDR untergebracht waren, entschädigt werden. Es gibt noch immer viel zu tun, denn das Gebiet des heutigen Sachsens war die bevölkerungsreichste Region der DDR, die Region mit den meistens Stasi-Untersuchungshaftanstalten, Gefängnissen und den meisten Jugendwerkhöfen. Sachsen ist damit heute das Bundesland mit den höchsten Fallzahlen.

»Außerdem setze ich mich seit Jahren dafür ein, die Knüpfung der Opferrente (maximal 330 Euro/Monat) an die Be­dürf­tigkeit aufzuheben«, erzählt Aris. Es schmälere die gewollte Würdigung der Opfer, wenn finanzielle Entschädigung nur im Fall von Armut gewährt werde und selbst­redend diese Bedürf­tigkeit mittels umfangreicher Anträge regelmäßig erneut nachzuweisen sei.

Crashkurs für angehende Rechtsanwälte

Unsere Fahrt endet vor dem Justizzentrum in Chemnitz. Hier hält die Landesbeauftragte heute vor Rechtsreferendarinnen und -referendaren einen Vortrag zur politischen Strafjustiz in der DDR. Der Nachwuchs soll ein Gespür bekommen für das einstige Justizsystem. Der eine oder andere von ihnen ist womöglich künftig mit der Auf­hebung früherer Urteile befasst. Es folgen zwei Stunden Crashkurs. Der Saal ist gut gefüllt angesichts der Freiwilligkeit, mit der die Veranstaltung im Lehrplan steht.

Für den zweiten Teil des Tages wechseln wir nach nebenan zum Lern- und Gedenkort Kaßberg. Vor wenigen Monaten öffnete die Gedenkstätte im einstigen Gefängnis ihre Pforten. Das Haus nimmt ob seiner zentralen Rolle beim Häftlingsfreikauf in der DDR eine historisch einzigartige Rolle in der Gedenkkultur ein. Leiterin Dr. Steffi Lehmann und ihre Mitarbeiterin Kristina Hahn führen den Referendariatskurs durch die Gedenkstätte und erläutern das didaktische Konzept, das die Geschichte anhand von Biografien ehema­liger Häftlinge vermittelt.

Nancy Aris bleibt im Hintergrund, möchte dem Team vor Ort die Bühne überlassen. Die Frage nach ihrem Anteil am jahrelangen Kampf um die Errichtung der Gedenkstätte beantwortet die Mitautorin der ersten wissenschaftlichen Publikation zum Kaßberg-Gefängnis mit: »Ich habe das Projekt von Beginn an unterstützt.«

Auch Projektgelder hat die Geschäftsstelle der Landesbeauftragten zur Verfügung gestellt. »Sie hat uns jederzeit geholfen, Zeitzeugen vermittelt, Finanzierungsquellen aufgezeigt, Rat gegeben, viel Zeit investiert«, klingt der Anteil Arisaus dem Mund der Gedenkstättenleiterin Steffi Lehmann. Aris trägt sich unterdessen in das ausliegende Gästebuch ein. Bei den zurück­liegenden Besuchen war dafür keine Zeit, zur Eröffnung hatte man die fleißige Netzwerkerin ob der Politprominenz schlichtweg vergessen zu erwähnen.

Spurensuche in der Geschäftsstelle

Ortswechsel. Wir sind verabredet in der LASD-Geschäftsstelle. Nancy Aris trifft sich mit Christan Curschmann vom »Denk­raum Sophienkirche«. Er hat um das Gespräch gebeten, weil die Bürgerstiftung Dresden als ehrenamtliche Betreiberin der Gedenkstätte Unterstützung und Expertise beim Jugendprojekt »Spurensuche« der Sächsischen Jugendstiftung braucht. Es geht um die Erforschung der Geschichte der Sophienkirche, die am 13. Februar 1945 im Zuge der Bombardierung Dresdens ausbrannte, aber erst 1962 auf Befehl Walter Ulbrichts abgerissen wurde. Damals regte sich viel Protest gegen die Aktion. Die Idee: Jugendliche sollen vor der Kamera Zeitzeugen interviewen. Curschmann hält den Kontakt zu den Schulen, kümmert sich um den Projektantrag zur Finanzierung. Bei der Durchführung der Interviews soll das Team der Landesbeauftragten helfen. Das hat reichlich Erfahrung in der politischen Bildungsarbeit an Schulen.

Am Ende steht fest: Man wird das Projekt gemeinsam durchführen. Das Ergebnis gibt es im Herbst 2024 im Parlament zu sehen, wo die Ergebnisse der »Spurensuche« traditionell bei der Projektmesse der Jugendgeschichtstage den Abgeordneten vorgestellt werden.

Jugendfreiheitskonferenz in Dresden

Nochmals Ortswechsel. Jetzt sind wir in der Gedenkstätte Bautzner Straße in Dresden. Dicht gedrängt stecken die Anwesenden in einem winzigen Beratungsraum die Köpfe zusammen. Sie bereiten die »Jugendfreiheitskonferenz« des Ministerpräsidenten am 17. Juni 2024 vor. Es wird die zweite Auflage nach dem Erfolg der Premiere im Jahr zuvor sein. Einen Tag lang befassen sich Dutzende Schülerinnen und Schüler mit der Geschichte ihres Landes. Der 17. Juni 1953 wird ebenso ein Thema sein wie der 80. Jahrestag des Hitler­attentats. Nancy Aris hilft, unter­stützt, verknüpft dezent lose Gesprächsfäden und Ideen zu einem tragfähigen Netz. Ach ja: 35 Jahre Friedliche Revolution wird der dritte Schwerpunkt der Konferenz sein.

Autorin: Katja Ciesluk